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KOMMENTAR
Es gibt leider sehr viele dumme Sprichwörter und Aussagen von (Laien)experten, die nichts Besseres zu tun haben, als dauernd jemanden damit zu behelligen und ihn belehren zu wollen. Damit ich nicht ins selbe Fahrwasser gerate, möchte ich mich hier bereits abgrenzen von „Belehrenwollen“. Im Gegenteil, ich möchte eine Lanze brechen, für alle Menschen, vor allem für diejenigen, denen es nicht so gut geht und jene, die ihnen zur Seite stehen. Machen wir uns nichts vor: Die alten Philosophen hatten recht, und die neuen Ratgeber, die uns alle glücklich machen wollen, haben unrecht. Das glückliche Leben ist schwer zu finden und selten.
Das Leben ist viel komplexer, als schön gewählte Worte
Die meisten Menschen finden kein anhaltendes Lebensglück, viele kämpfen um ihr Überleben oder erreichen nur das Glück der Momente, punktuelle Euphorie und ebenso vorübergehende Zufriedenheit. Und trotz der Tatsache, dass wir für unser Leben selbst verantwortlich sind, hört die Verantwortung spätestens da auf, wo wir auf den guten Willen einer anderen Person angewiesen sind. Dann sind nicht mehr wir für unser Leben verantwortlich, sondern die andere Person übernimmt die Verantwortung für unser Leben (Trennung, Reglemente, Gesetze, Mobbing, Stalking, Kündigung, Angriff, Verleumdung, Arbeitslosigkeit, Schläge u.v.m.). Ebenfalls Krankheit, Unfall, Unglück, Katastrophen und ähnliche Schicksale zeigen uns täglich auf, wie wenig wir dagegen tun können. Deshalb sollte man aufhören Menschen zusätzlich Druck aufzusetzen mit hohlen Worthülsen wie, "Jeder ist seines Glückes Schmied". Das Leben ist viel komplexer, als schön gewählte Worte.
Der Mensch hat eine Macht sein Leben so zu gestalten, wie er es will
Wenn dieser Spruch "Jeder ist seines Glückes Schmied" nicht lediglich als Ermunterung gedacht ist, muss man ihn wohl für die Überzeugung ansehen, dass Menschen grundsätzlich autonom sind und die Macht haben ihr Leben zu gestalten und somit ihr Glück als das Ergebnis dieser Lebensgestaltung sehen. Man geht also davon aus, dass man sein Leben vollständig selber kontrollieren kann, indem man wohlwissentlich oder aus Naivität, kollektiv wie auch individuell, Krankheit und Tod ausblendet wie auch die Indizien für die Grenzen der Fähigkeit von Menschen, ihr Leben vollständig selbst zu kontrollieren. Wir leben in einer Arbeits-Gesellschaft und in dieser ist der Spruch, dass jeder für sein eigenes Leben verantwortlich ist, einfach nur falsch. Es bestehen so viele Abhängigkeiten in unseren Leben, dass schon eine Veränderung, bei diesen Abhängigkeiten, dazu führen kann, dass unser Leben in einem Chaos versinkt – und für diese Veränderung muss man nicht einmal selbst verantwortlich sein. Wer im Leben steht, weiss dies aus eigener Erfahrung. Sich etwas anders vorzumachen, oder von anderen vormachen zu lassen, ist der falsche Weg, da dadurch der Druck, der ohnehin zu hoch ist für den Grossteil der Menschheit, noch zusätzlich erhöht wird.
Sprüche wie "Jeder ist seines Glückes Schmied" oder "Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich" sind bloss eine Selbsttäuschung
Menschen verfügen als natürliche Wesen nur über relative Macht oder Kraft, vor allem über jene zur Selbsterhaltung. Der Mensch ist deshalb immer dem Leiden ausgesetzt. Auch Handlungsfreiheit ist ihm nicht einfach gegeben, sondern er muss sie sich durch Selbstreflexion und Welterkenntnis erarbeiten, um sie dann wieder zu verlieren. Wir leben unter dem Diktat. Dem Diktat von Politik und Gesellschaft. Sprüche wie "Jeder ist seines Glückes Schmied" oder "Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich" sind bloss eine Selbsttäuschung, eine Illusion, mit der Menschen ihre faktisch eingeschränkte Macht und Endlichkeit in der Phantasie zu kompensieren versuchen. Zu gross ist das Elend in der Welt. Auch und vor allem in unserer Schweiz. Extrem hohe Selbstmordrate, Süchte, Überarbeitung (oder Burn-Outs), Stress, Überforderung, Armut, Korruption u.v.m. sorgen dafür, dass wir niemals frei sind zu tun, was notwendig ist. Wir sind abhängig und gesteuert. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sich das biologisch begrenzte Leben der Menschen abspielt, schränken menschliche Autonomie ein. Aber das bedeutet nicht, menschliche Selbstbestimmung und Freiheit zu leugnen. Doch der Gedanke, der in ungezählten Ratgeberbüchern gebetsmühlenartig wiederholt wird, man habe sich als Einzelner nur aufzuraffen, «positiv» zu denken und ein paar Regeln zu befolgen, um sein Glück zu machen, kann bestenfalls als naiv, angesichts der ungezählten Variationen menschlichen Leides aber auch als zynisch bezeichnet werden.
Sicher gibt es Menschen, die für ihr eigenes Versagen die Schuld bei anderen suchen, aber...
Es ist unschwer erkennbar, das unsere gegenwärtige Konkurrenzgesellschaft, in der alles und jeder "gerankt" wird, nichts anderes als das Gegenteil des Friedens und der Freiheit der Selbstbestimmung ist. Viele glauben zwar offensichtlich zu wissen, wie ein glückliches Leben auszusehen hat, so, als wäre die Vorstellung von Glück etwas Angeborenes, das alle miteinander teilen. Doch das stimmt nicht. Denn wenn man Zustände des Wohlfühlens und Konstellationen momenthaften Glücks miteinander vergleicht, wird schnell klar, dass hier starke Differenzen bestehen, sowohl zwischen verschiedenen Individuen als auch innerhalb der Entwicklung eines einzelnen Individuums. Sicher gibt es Menschen, die für ihr eigenes Versagen die Schuld bei anderen suchen, aber das ist etwas, was von Einzelfall zu Einzelfall geprüft werden sollte. Pauschal zu sagen, dass jeder selbst verantwortlich ist, und somit versagt hat, wenn im Leben etwas nicht so läuft, wie es soll, geht aber überhaupt nicht. Und genau das ist der Grund, warum ich bei diesem Satz immer platzen könnte. Ich wünsche allen Menschen viel Kraft und Durchhaltewillen ihr Leben bestmöglich und glücklich leben zu können, ein Umfeld, das in Krisen da ist und hilft. Und letztlich taube Ohren, wenn wieder einmal so jemand daher kommt und predigt: „Nimm dich zusammen, steh auf, mach was, du bist selbst für dein Leben verantwortlich“, oder anderen Kram.
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